Die Aussagen von Medellin (1968) stehen in einer Zeit des Umbruches. Neue Fragen und Probleme tauchten damals vor allem im gesellschaftlichen und politischen Feld im Hinblick auf globalpolitische Verhältnisse auf. Dies ist nicht ohne Wirkung auf den in Medellin versammelten Bischofsrat geblieben.
Vor allem gab es in den Sechziger/ Siebziger Jahren neue wirtschaftstheoretische Sichtweisen, welche auf Lateinamerika angewendet wurden. Theologische Streitereien entzündeten sich in der Folgezeit vor allem an kontroversen wirtschaftspolitischen Modellen. Die ekklesiologischen Kontroversen um die Befreiungstheologie sind oft aus Positionen entstanden, welche wirtschaftspolitischer und nicht etwa theologischer Natur waren.
'Desarrollismo' meint eine Sichtweise, welche alle wirtschaftlichen Abläufe unter den Kategorien "mehr entwickelt /weniger entwickelt" betrachtet (desarrollo = Entwicklung). Zu einem Denken innerhalb dieser Kategorien gehört auch ein Sprechen in den Kategorien von "Erster", 'Zweiter" und "Dritter Welt". Die Länder der "Ersten Welt" werden hierbei als Maßstab einer Entwicklung betrachtet, auf deren Weg sich die Länder der "Zweiten Welt" schon befinden und welche die Länder der "Dritten Welt" noch vor sich haben. Man beurteilt die Länder, welche nicht zur "Ersten Welt' gehören, danach, welche Entwicklung sie noch zu machen haben, bis sie auf demselben Stand sind wie die hochindustrialisierten Länder. Die Wirklichkeit der Industrienationen ist dabei normativ und gilt a priori als gut und erstrebenswert3.
Nordamerikanische und europäische Wirtschaftstheoretiker wie Rostow, Rosenstein - Rodan, Gerschenkron, Liebenstein und Hirschmann4 entwarfen in einem Entwicklungsdenken der sechziger Jahre optimistische Bilder eines sozialen und wirtschaftlichen "Fortschrittes" der lateinamerikanischen Länder5. Dabei schloss man vom wirtschaftlichen Aufschwung des Nachkriegseuropa auf die Länder Lateinamerikas. Man dachte, zum großen Aufschwung fehle nur ein "starker Impuls", ein "deftiger Ansporn", eine "kleine, aber ausschlaggebende Anstrengung"6.
Doch schon am Ende der Fünfziger Jahre gerieten die Bestrebungen, eine spontane wirtschaftliche Entwicklung in die Wege zu leiten, in die Krise7. Seit Beginn der sechziger Jahre bekam man in Lateinamerika den Eindruck, dass das Verhältnis der unterentwickelten Länder zu Industrienationen nicht für beide Teile gleichermaßen den "Fortschritt" bringe8. Die neuen Realitäten, welche sich in der Folge einer "Entwicklungspolitik" der sechziger Jahre in Lateinamerika einstellten, führten zu einer ersten kritischen Auseinandersetzung mit dem Desarrollismo. Diese neu aufgetretenen Probleme wurden in Theorien einer 'ungleichen Entwicklung' von den Lateinamerikanern Raul Prebisch und Celso Furtado zum erstenmal neu und auf unterschiedliche Weise zu interpretieren versucht.
Prebisch beobachtete9, dass durch die internationale Preispolitik der Austausch zwischen "unterentwickelten" und "industrialisierten" Ländern ungleich sei. Er zeigte auf, dass das Verhältnis der angebotenen Rohstoffe aus der Dritten Welt in keiner vertretbaren Relation zu den dafür erzielten Preisen und den dann im Austausch dafür von den Industrienationen erworbenen Industrieprodukten stünde. In der Folge eines "wirtschaftlichen Aufschwunges" (wie zB im "'brasilianischen Frühling") kam es zu einer starken Nachfrage an Industriegütern, welche eine hohe Verschuldung der "Dritte- Welt- Länder" nach sich zog. Der ganze in der Binnenentwicklung Lateinamerikas erwirtschaftete Gewinn musste dann mehr und mehr an die Industrienationen abgeführt werden10. Dies hatte eine Abwanderung des Kapitals und eine fortschreitende Leistungsunfähigkeit der lateinamerikanischen Wirtschaft zur Folge. Prebisch beobachtete auch, wie dasselbe Gefälle, das zwischen Lateinamerika und den Industrienationen entstand, sich noch einmal zwischen den lateinamerikanischen Metropolen und deren Hinterland einstellte. Er forderte deshalb eine gleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung und eine Förderung des Hinterlandes11.
Eine Aktualisierung der katholischen Soziallehre durch das Denken J.J.Maritains in Lateinamerika führte schon in den dreißiger Jahren zur Gründung von katholischen Bewegungen (Acion Catolica) und zu Parteien (Partidos Democratico- Cristianos), welche dann in den Sechziger Jahren durch einen verstärkten Einsatz im Sinne der katholischen Soziallehre die aufgetretenen Probleme bewältigen wollten12. Andererseits kamen in den sechziger Jahren weite Kreise der katholischen Studentenschaft im Zuge ihres sozialpolitischen Einsatzes zu dem Schluss, dass eine allein national ausgerichtete Anwendung der Soziallehre mit ihrer organisch- evolutiven Perspektive das Problem "ungleicher Entwicklung" nicht lösen könne13.
Neben Prebisch legte Celso Furtado ein mehr qualitativ orientiertes, strukturalistisches Konzept vor, um die "Unterentwicklung" Lateinamerikas zu erklären. Celso Furtado war von 1961 bis zum Militärputsch 1964 Planungsminister in Brasilien, nach seiner Exilierung durch die Militärregierung Professor an der Sorbonne / Paris14. Er interpretierte die lateinamerikanische Wirklichkeit im Sinne einer .. qualitativen Deformation", welche durch den Einfluss der importierten Technologie und des neuen Konsumverhaltens erfolgt sei. Die Orientierung am Lebensniveau industrialisierter Völker habe eine unausgewogene Struktur der lateinamerikanischen Wirtschaft zur Folge gehabt. Eine Liaison der Oberschicht mit den ausländischen Firmen und deren Interessen haben dieser Schicht zu einem Lebensstandard nach nordamerikanischen Kategorien verholfen. Das Verhängnisvolle habe dann darin bestanden, dass die lateinamerikanische Wirtschaft sich in der Folgezeit nach den Bedürfnissen dieser kleinen, finanzkräftigen Oberschicht gerichtet habe, welche in den Genuss der erwirtschafteten Güter gekommen sei, wohingegen die weiten Volkskreise leer ausgegangen seien15 (13).
Furtado forderte deshalb eine Rückverteilung der gesellschaftlichen Werte und eine Homogenisierung des Wohlstandes, womit dann auch eine Steigerung der Produktivkraft der gesamten Volkswirtschaft bewirkt werden sollte16. In diesem Sinne der gesellschaftlichen Rückverteilung wollten dann auch die populistischen Bewegungen der sechziger Jahre wirken.
Entschieden gegen die Konzepte des "Desarrollismo" und einer "gesellschaftlichen Rückverteilung" treten in den sechziger Jahren zunehmend mehr Vertreter einer 'Dependenztheorie" in verschiedenen Variationen auf. Ihnen gemeinsam ist, dass sie eine Besserung der wirtschaftlichen Lage der Länder Lateinamerikas bezweifeln, solange zwischen diesen Ländern und den Industrienationen ein Verhältnis der "Abhängigkeit" (dependencia) bestehe. In ihrer Sicht ist die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas ganz den Interessen der multinationalen Unternehmen untergeordnet. Diese Unternehmen bestimmten durch ihre Vormachtstellung auf dem Weltmarkt, den Rohstoffmärkten und durch ihr technologisches Know- How das Geschick der unterentwickelten Länder17. Bestärkt wurden die Vertreter der Dependenztheorie in ihrer Sichtweise durch die Wirkung des ausländischen Kapitals, welches im Zuge einer "Erschließung der Rohstoffquellen Lateinamerikas" (Rohstoffe, Erdöl und Minen) nach Lateinamerika floss und die dortigen Märkte überrollte, welche zur damaligen Zeit ihr Schwergewicht noch auf dem Gebiet der Manufaktur hatten18.
Das Verhältnis der armen zu den wohlhabenden Ländern wird im Sinne der Dependenztheorie als Abhängigkeit bezeichnet, welche seitens des Wohlhabenderen beabsichtigt ist, weil sie deren Interessen dient. Die großen Differenzen zwischen ausländischem und lateinamerikanischem Kapitalmarkt, das unterschiedliche Niveau der Industrialisierung, die Abwanderung des "Mehrwertes" in die industrialisierten Länder, die Unterordnung der lateinamerikanischen Politik und des Militärs unter wirtschaftliche Gesichtspunkte legten den Vertretern der Dependenztheorie eine marxistische Interpretation der Wirklichkeit nahe19.
Man ging dabei davon aus, dass die Industrienationen im eigenen Interesse bestrebt sein würden, das Verhältnis der Abhängigkeit zu fixieren. Aus der "Abhängigkeit" gelte es daher Oberhaupt auszusteigen, notfalls mit Gewalt, Volkserhebung oder Revolution Eine klassisch gewordene Sichtweise von Dependenz entwickelte Eduardo Galeano, dessen Geschichtsdarstellung Lateinamerikas in 'Las venas abiertas de Latinoamerica' (Die offenen Adern Lateinamerikas) eine weite Verbreitung fand20. Galeano beschreibt darin in materialistischer Geschichtsinterpretation die geschichtliche Notwendigkeit der Abhängigkeit Lateinamerikas als Folge der neokolonialen Entwicklung. Diese Geschichtsauffassung liegt dann auch in der Folgezeit Enrique Dussels Kirchengeschichtsinterpretation zugrunde21 - einem Geschichtswerk, das für die "Befreiungstheologie" geradezu "kanonische" Bedeutung gewonnen hat22.
Diese weit verbreitete Sicht gemäß einer Dependenztheorie wurde dann auch gegen Ende der sechziger Jahre in Kreisen der katholischen Studentenschaft vertreten (Juventud Universitaria Catolica). Die katholische Soziallehre hatte ja bis zu "Pacem in Terris" (1963) nur im engen, nationalen Rahmen gedacht; "Populorum Progressio" (1967) dachte erstmals gesamtweltlich. Jedoch konnte Populorum Progressio offensichtlich auch keine Antworten auf die Fragen geben, welche durch die Sicht der Dependenztheorie behandelt wurden. Selbst 'De Justitia in Mundo" '(1971) konnte vielen ihre Fragen nicht beantworten, welche sich aus der lateinamerikanischen Wirklichkeit heraus stellten. Setzte man die lateinamerikanische Wirklichkeit mit ihren starken Gegensätzen zwischen arm und reich daneben, dann war für die studentischen Kreise eine marxistische Hermeneutik einfacher, weil sie alles auf einen Nenner zu bringen versprach: das Phänomen der strukturelle Abhängigkeit.
Das Schlagwort "Befreiung" (liberaciòn) trat in diesem wirtschaftstheoretischen Zusammenhang in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zum erstenmal auf23. Befreiung bedeutete dabei eine Befreiung der lateinamerikanischen Länder aus der wirtschaftlichen und kulturellen Abhängigkeit der Industrienationen24. Konkrete Optionen reichten dann von einem politischen Weg (Populismo, Socialismo) über eine Volkserhebung bis hin zu revolutionären Gewalt (Che Guevara, Camillo Torres). Die revolutionären Gärungen der sechziger Jahre hatten in vielen Ländern Militärregierungen zur Folge.
Nach Ansicht vieler Intellektueller war Brasilien gegen Anfang der Sechziger Jahre im Begriff, sich einem politischen Modell des "Sozialismus eigener Prägung" zuzuwenden25. Man beschrieb diese Zeit daher, jene Zukunft gewissermaßen schon voraussetzend, als "Übergang" (Transito.). Der Sieg der kubanischen Revolution (1959) ermutigte viele Gruppierungen verschiedenster marxistischer Ausrichtung.
Da weite Teile der Bevölkerung analphabetisch waren und eine resignative und fatalistische Grundhaltung hatten, sahen linke Gruppierungen ihre Aufgabe darin, breite Bevölkerungsgruppen zu alphabetisieren und, damit einhergehend, zu einer politischen Bewusstseinsentfaltung zu bringen26. Ohne Alphabetisierung sah man keine Möglichkeit zu gesellschaftskritischem Bewusstsein und zu einer Organisierung. Da aber eine 'Organisation der Massen" im Sinne revolutionären Handlungen beabsichtigt war, bestand der erste Schritt in einer Alphabetisierung und einer damit einhergehenden "politischen Bewusstseinsbildung". Aber nicht nur Gruppierungen der extremen Linken sahen ihre Aufgabe in gesellschaftlicher Mobilisierung und einer Alphabetisierung. Auch Populisten erhofften sich von einer Alphabetisierung Wähler für ihre Parteien. Im Zuge weiter Kreise der Studentenschaft, die sich den analphabetisch en Randgruppen der Gesellschaft zuwendeten, blieb auch die katholische Studentenschaft nicht abseits. Aus der zahlenmäßig starken Katholischen Aktion (Aciao Catolica) der dreißiger Jahre war die studentische Bewegung der Juventud Catolica hervorgegangen. Teile dieser Juventud Catolica arbeiteten bei der Alphabetisierung mit kommunistischen Studentengruppen zusammen. Nach einem Ultimatum seitens der Hierarchie spaltete sich aus der Juventud Catolica eine Aciao Popular mit stärkeren marxistischen Zügen ab27
Aber auch in verbleibenden Gruppierungen der Juventud Catolica wurde auf gesellschaftliche Widersprüche, auf kulturelle und soziale Entfremdungen reflektiert. Man übernahm die dialektisch- materialistische Gesellschaftsanalyse28 und prägte den Begriff des "geschichtlichen Bewusstseins". Lateinamerika müsse sich seiner Stellung als Satellit der Industrienationen bewusst werden und einen Weg aus dem Gravitationsfeld des Kapitalismus suchen. Geschichtliches Bewusstsein bilde sich in einer Reflexion auf die politischen und kulturellen Widersprüche und Entfremdungen29.
Der Sozialismusbegriff, welcher damals im Studentenmilieu der Juventud Catolica gebildet wurde, ging vom personalistischen Konzept des christlichen französischen Existentialisten Emmanuel Mounier aus: Dieser begriff Geschichte als dialektisch- personalen Prozess der "gegenseitigem Anerkennung, Versöhnung und Annahme des Menschen durch den Menschen". Darin, und nicht in einer Herrschaft von Menschen über Menschen, manifestiere sich Geschichte. In einem Prozess gegenseitiger Anerkennung bliebe Geschichte auf Zukunft hin offen; das Individuum werde Person, indem es sich selbst auf den anderen hin übersteige30.
Es scheint mir wichtig, auf den Ursprung des damals im katholischen Milieu verwendeten Sozialismus- Begriff zu schauen, weil sonst das Votum lateinamerikanischer Theologen und Bischöfe für einen Sozialismus (Gutierrez, Mendez Arceo, Piroño, Fragoso, Casaldaglia etc.), das bis in unsere Zeit gegeben wird, außerordentlich irritierend ist. Man ging damals davon aus, einen "Sozialismus lateinamerikanischer, ganz eigener Prägung" schaffen zu können. Schon im vortheologischen Feld gehen hier freilich die verschiedenen Optionen und Einschätzungen weit auseinander. Man braucht sich daher nicht zu wundern, dass sie auch in jeder Diskussion um die 'Befreiungstheologie" immer wieder auftauchen; doch handelt es sich dabei um Divergenzen im "Weltmodell" und nicht um theologische Fragen.
Wichtig ist es auch, jenem philosophischen 'Zusammenhang das Wort "Option" (opcion) zuzuordnen, welches in Medellin und später auch bei "Befreiungstheologen" verwendet wird. Von Mouniers existentialistisch- personalistischer Analyse wird die "Menschwerdung" des Menschen durch Entscheidung gedeutet: Der Mensch müsse immer aus einer Vielzahl von ihm gegebenen Möglichkeiten wählen; indem er sich entscheide, "eine Option" treffe, werde der Mensch zum Menschen. Nur eine in sich freie Entscheidung bringe den Menschen zu sich selbst und führe zu einer wirklichen Personwerdung31.
In diesem Kontext stehen auch die pädagogischen Projekte des Brasilianers Paolo Freire, der in Recife, der Diözese Helder Camaras, als Professor für Erwachsenenbildung ab 1947 im Rahmen von 'Kulturkreisen" mit Studenten seiner Fakultät Studien der brasilianischen Wirklichkeit "aus der Praxis heraus" durchzuführen begann32. Der methodische Weg von der Praxis zur Theorie folgte dabei der Devise "sehen, urteilen, handeln", wie er in der katholischen Jugendbewegung (Pfadfinder) praktiziert wurde. Zum Erstaunen aller brachte die daraus sich entwickelnde pädagogische Methode Freires erstaunliche Erfolge: Erwachsene lernten innerhalb von 30 Stunden Lesen und Schreiben. Freire wurde daraufhin von Industrie (Servicio Social de Industria) und Regierung unterstützt. 1963 kamen im Laufe einer einzigen Alphabetisierungskampagne ca 300 Menschen in kurzer Zeit zum Lesen und Schreiben33. Freires pädagogisches Konzept wurde in der Folgezeit bald von Katechisten, Sozialarbeitern, Pädagogen, aber auch von marxistischen Revolutionären übernommen34.
Nach dem Militärputsch von 1964 in Brasilien musste Freire ins Exil nach Chile. Obwohl ursprünglich Populist, hatte er verschiedene marxistische Elemente in seine Wirklichkeitsanalyse aufgenommen. Nach einer Gastprofessur 1970 in Harvard / USA, und einer durch den Sturz Allendes bedingten abermaligen Exilierung, arbeitete Freire (bis 1976) als Berater für den ökumenischen Weltkirchenrat in Genf. Dann war er zum Aufbau eines Erziehungs- und Bildungswesens in Guinea Bissau und kehrte 1980 nach Brasilien zurück.
Freire versteht sich als Christ, als jemand, der versucht, "Christ zu werden. Ich sage bewusst 'ein Christ zu werden'. Denn ich bin der Meinung, dass man nicht Christ ist, sondern immer im Prozess ist, einer zu werden. Es ist ein permanenter Prozess des Sterbens, des Gebärens und des Geborenwerdens"35.
Freire machte als Persönlichkeit und durch seine pädagogische Methode einen großen Eindruck auf das kulturelle Leben Lateinamerikas. Viele seiner Ansichten kann man bei Ivan Illich und auch unter dem Stichwort 'Iglesia popular" heute wieder entdecken. Freire formuliert sein Kirchenbild mit folgenden Worten:
"Ich bin fest davon überzeugt, dass die traditionelle Kirche nichts gemein hat mit einer kritischen Bewusstseinserweiterung. Sie hat mit ihr ebenso wenig gemein wie die sog. 'moderne Kirche'. Letztere ist eine traditionalistische Kirche, die sich modernisiert, um in effektiverer Weise traditionell zu bleiben. Beide Kirchen werden meiner Meinung nach historisch untergehen, ohne dass es eine Wiederauferstehung gäbe. Nur die prophetische Kirche, die so alt ist wie die Christenheit selber, wird überleben, sie ist nicht traditionalistisch, sie ist modern, ohne ständig modernisiert zu werden. Nur die prophetische Kirche wird überleben und zwar in dem Maße wie sie historisch gesehen - sich im Werden begriffen versteht. Die Prophetische Kirche hat keine Angst, unterzugehen, weil sie weiß, dass das Sterben die Voraussetzung für die Wiedergeburt ist."36
Liest man daneben Stimmen innerhalb einer, "Befreiungstheologie", welche von einer "Neuentstehung der Kirche inmitten des Volkes"37 oder von einer "prophetischen Kirche der Zukunft"38 sprechen, so kann man vielleicht den Inhalt jener Aussagen vor den Aussagen und Intentionen Freires anders verstehen, als sie ohne diesen Hintergrund wirken.
Auch die Begriffe von 'Kultur und 'Geschichte', wie sie Freire gebraucht, sind für unseren Zusammenhang aufschlussreich:
Freires Ansatzpunkt ist sprachphilosophischer Art: Danach entwickelt sich Mensch und Geschichte gleichzeitig. Die gegenseitige Beziehung von Mensch und Welt komme in der Sprache zum Ausdruck. In der Sprache und mittels der Sprache interpretiere sich der Mensch selbst in seinem Weltbezug. So spiegele Sprache auch immer eine bestimmte gesellschaftliche Verfasstheit:
Die Sprache von Unterdrückten zB. spiegele diesen Unterdrückungszustand wider. Alphabetisierung könne daher im Sinne einer Vermittlung neuer Sprachmöglichkeiten Mechanismen der Entmenschlichung aufdecken und bewusst machen. Nicht ein Mensch erziehe den anderen, sondern Menschen erzögen sich gegenseitig durch Vermittlung von Welt im Medium der Sprache. Eine Versprachlichung müsse jedoch im Alltag und nicht auf schon hohen Ebenen der Abstraktion - beginnen: bei einer Reflexion der Praxis39. Indem der Mensch sich mit sich selbst und seiner Welt durch Sprache konfrontiere, gelange er zu einem Portrait seiner selbst und der eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit40. So werde eine dialogische Struktur zwischen Mensch, Welt und Gott aufgebaut; in diesem Prozess entstehe Bewusstsein (conciencia). Den Prozess einer Bewusstwerdung der eigenen Wirklichkeit, beginnend in der eigenen Lebenswelt in und durch Sprache bezeichnete Freire daher 'Concientizacao'. Dabei stellt die Praxis ein 'erstes Wort' dar, zu dem ein 'zweites Wort' (Theorie) gefunden werden wolle. Der Praxis als der Wirklichkeit, in der wir leben, gebühre daher der Vorrang vor der Theorie.
Hatte sich Paolo Freire mehr den lateinamerikanischen Verhältnissen zugewandt, so studierte Ivan Illich mehr die inneren Widersprüche der industrialisierten Länder und versuchte, den Einfluss zu analysieren, den die 'Erste Welt" auf die "Dritte Welt" ausübt. Zwischen Illich und Freire besteht ein Austausch von Gedanken und eine persönliche Beziehung.
Illichs Anliegen war es, technokratische, sich verselbständigende und verabsolutierende Ideologien aufzuzeigen, welche in seiner Sicht die heutige Industriegesellschaft prägen. In seiner Analyse stellen sich in jeder gesellschaftlichen Entwicklung kritische Punkte ("watersheds") ein, von denen an sich das Positive einer jeden Entwicklung in ihr Negativ kehrt41. Illich sieht dann eine negative Entwicklung gegeben, wenn die aktive Mitgestaltung des Menschen oder gar eines ganzen Volkes bei einem gesellschaftlichen Prozess nicht mehr gewährleistet ist, etwa auch in der Folge eines Diktates von "technologischem Fortschritt". Technischer Fortschritt allein vermag zwar das materielle Wohlergehen der Menschen zu bieten, allerdings geschehe dies um den Preis der menschlichen Kreativität. Bis zum Erreichen eines kritischen Punktes stehe jede gesellschaftliche Errungenschaft im Dienst des Menschen, dann aber, beim Überschreiten der "Wasserscheide", verselbständigten sich die technologischen Apparate und der Mensch selber müsse ihnen dienen - nicht mehr umgekehrt42.
Illich zeigte auf, wie im Bereich des Schulwesens43, der Kirche44, im Gebiet von Gesundheitswesen 45 und Verkehr46 solch kritische Punkte durch die Industrienationen bereits überschritten seien. Die "wertfreie Forschung und Lehre der Universitäten sei längst schon dem 47. Illichs Anliegen war es, v o r die kritischen Entwicklungspunkte ("watersheds") in der industriellen Entwicklung zurückzugehen, von denen an es zu einer Entfremdung der Menschen in der Gesellschaft und zu Umweltzerstörung kommt. Er nannte dies "Recycling the world"48. Unverzichtbare Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens faßte er in einem utopischen Modell "towards a convivial reconstruction of Society" zusammen49.
In kulturkritischem Sinn beurteilte Illich auch 1967 den Aufruf der 'National Catholic Welfare Conference' von 1965, Missionare nach Lateinamerika zu senden:
"Der Missionar aus den USA ist notgedrungenermaßen ein 'getarnter Agent', der - wenn auch unbewusst - für soziale und politische Übereinstimmung mit den USA arbeitet. Bewusst hingegen verfolgt er das Ziel, Südamerika die Werte seiner Kirche zu vermitteln; Anpassung und Auswahl lassen es nur selten zu, dass er diese Werte selber in Frage stellt."50.
Illichs Anliegen war es, dass die Priester und Ordensleute, welche sich in den Sechziger Jahren in der Folge des Rufes 'Priester für die Dritte Welt' entschlossen, als Missionar von Europa oder Nordamerika nach Lateinamerika zu gehen, nicht unkritisch ihre eigenen Kulturbegriffe mit in die Mission nehmen. Sie sollten sich vielmehr ihrer unbewussten, durch die Industriegesellschaft geprägten Vorurteile und Ideologien bewusst werden. Diesem Ziel diente das 1966 von Illich gegründete Zentrum für Kulturfragen 'Centro Intercultural de Documentacion' in Cuernavaca/ Mexico, das eine weite Ausstrahlung auf die pastoralen Konzepte der lateinamerikanischen Kirche hatte51.
In der Zeit zwischen 1966 und 1970 kam es in einer vielschichtigen Interferenz der 68-er Bewegung in Europa, revolutionären Bewegungen in Lateinamerika (Che Guevarra, Camillo Torres), den Sozialanalysen der "Frankfurter Schule" und der europäischen politischen Theologie zu dem Phänomen einer "Theologie der Revolution", welche vor allem auf theologischen Kongressen entfaltet wurde. Roger Vekemans sieht den nordamerikanischen Theologen Richard Shaull52 als eigentlichen Promotor einer Theologie der Revolution an, welche im Sinne einer "Abkoppelung" der Dritten Welt aus ihrer Abhängigkeit (Dependenz) von den Industrienationen eine Revolution für notwendig ansah und zwar in globalen Dimensionen53. In einer "Theologie der Revolution" sollte diese These hinterfragt bzw. begründet werden. Vordenker lateinamerikanischerseits waren bei diesen Kongressen die Protestanten Rubem Alves54, Jorge Pixley und Julio de Santa Anna55. Auf katholischer Seite vertraten damals vor allem Hugo Assmann56 und Joseph Comblin57 eine 'Theologie der Revolution".
Die 'Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft" des ökumenischen Rates der Kirchen in Genf (12.-26. Juli 1966) war die erste Plattform, auf der sich diese Fragen artikulierten58. Vorausgesetzt wurde dort vielfach die Sichtweise der Dependenztheorie. Vor ihrem Hintergrund wurde gefragt, ob und inwiefern revolutionäre Gewalt zu rechtfertigen sei. Auf diesem und den folgenden Kongressen wurden Beziehungen geschaffen, welche vielfältige Einladungen von zunächst J.Moltmann und dann auch J.B.Metz zu Vortragsreisen nach Brasilien zur Folge hatten. Jürgen Moltmann entwickelte in Genf 1966 Thesen zum Thema "Gott in der Revolution"59, Helmut Gollwitzer sprach über "Die Revolution des Reiches Gottes und die Gesellschaft"60. Hugo Assmann sprach über "Die Situation der unterentwickelt gehaltenen Länder als Ort einer Theologie der Revolution"61 und Richard Shaull über "Der christliche Glaube als Skandal einer technokratischen Welt"62.
Damit waren Komplexe angesprochen, welche nun von der Befreiungstheologie aufgegriffen werden sollten:
Als aber dann zu Beginn der siebziger Jahre eine Demontage der europäischen Theologie seitens der lateinamerikanischen "linken" Theologen einsetzte68, wurden mit allen anderen europäischen Ansätzen auch die Ansätze der "Theologie der Revolution" sowie der europäischen politischen Theologie vom Tisch gefegt69. In Europa geriet die "Theologie der Revolution" in Vergessenheit. Was blieb, war die Verbindung einiger "Befreiungstheologen" mit Jürgen Moltmann70, Richard Shaull, Paul Blanquart und Lucio Gera71. Joseph Comblin nannte Moltmanns Darstellung: "Gott in der Revolution' vor dem Weltkirchenrat "die bis jetzt gültigsten theologischen Beiträge, obwohl sie bloße Bruchstücke darstellen'72. Richard Shaull fühlte sich Comblin besonders dadurch verbunden, dass er "auf der Genfer Konferenz ( die revolutionäre These der Lateinamerikaner zum Ausdruck gebracht" habe73. Girardi und Blanquart wurden vor allem in Gutierrez' "Theologie der Befreiung' stark rezipiert74.
Gewiß wichen die Thesen der "Theologie der Revolution" bald dem realistischen Alltag oder wurden, von Medellin ausgehend, in einer gemäßigteren "Befreiungspraxis der Kirche' neutralisiert. Ungelöste Fragen sind aber aus dem Ansatz der 'Theologie der Revolution" nach Medellin und in manches Modell einer "Theologie der Befreiung" hinübergenommen worden - wie wir weiter unten bedenken wollen. Vor allem zum Verhältnis von Geschichte und Heilsgeschichte stehen aus der damaligen Diskussion noch ungelöste Fragen an. Miteinander nicht zu vereinbarende, konkurrierende Geschichtsentwürfe werden auch heute noch nebeneinander her vertreten: der aus einer marxistischen Gesellschaftsanalyse herkommende materialistisch- dialektische Geschichtsentwurf (Dependenztheorie), der Hegelsche Geschichtsentwurf (Moltmann) und Geschichtsentwürfe neomarxistischer Provenienz im Anschluß an die Entwürfe der Frankfurter Schule.
Diese Geschichtsbilder haben als Grundbegriffe: Evolution, Dialektik, Fortschritt, Unterdrückung und Erhebung. Eine christliche Geschichtsauffassung etwa im Sinn der Väter (unter dem Stichwort "Recapitulatio", "Plasmatio" oder "Kenosis") kommt in diesem Horizont nicht vor.
Vor dem Hintergrund der weltwirtschaftliclien und soziologischen Analysen der UNO und der Weltgesundheitsorganisation Ende der 60-er Jahre und den sich darin abzeichnenden großen Problemen artikulierte zum erstenmal Papst Paul VI. von Seiten des Lehramtes der Kirche ein weltweites wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Denken:
<>'Heute ist - darüber müssen sich alle klar sein - die soziale Frage weltweit geworden"75.
Die Enzyklika "Populorum Progressio" wurde 1 1/2 Jahre vor der Konferenz von Medellin veröffentlicht. Neben den Konzilskonstitutionen des II.Vatikanum wurde diese Enzyklika in Medellin am meisten zitiert.
Paul VI. nimmt das Problem des Hungers, des Elends, der Krankheit und der Unwissenheit in der "Dritten Welt" in den Blick und schließt, vom II.Vatikanum herkommend. In der Enzyklika "Populorum Progressio"76 sagt er:
"Seither steht das, was das Evangelium in dieser Frage fordert, klarer und lebendiger im Bewusstsein der Kirche. Es ist ihre Pflicht, sich in den Dienst der Menschen zu stellen, um ihnen zu helfen, dieses schwere Problem in seiner, ganzen Breite anzupacken (... )' (PP 1).
Von Medellin her gesehen, kann man in dem Duktus, der in diesen Sätzen zum Ausdruck kommt und in der ganzen Enzyklika anhält, eine eindeutige "Option der Kirche für die Armen" erkennen. Ja, Paul VI. spricht sogar ganz wörtlich auf die Situation in Afrika und Lateinamerika an (PP 4).
Weil Populorum Progressio "alle Menschen guten Willens" anspricht (Präambel, PP 1; PP 83-86), argumentiert sie wohl auch aufgrund allgemein- humanistischer Werte und nicht etwa biblisch. Doch innerhalb der Forderungen, welche schon ein "Humanismus im Vollsinn des Wortes "(PP 42) fordert, werden dann die Christen in besonderem Maße aufgefordert (PP 81; und 82): Sie sollen "die Reformen mit dem Geist des Evangeliums durchdringen" (PP 81). Die Opfer, welche auf dem Weg zu einer größeren Menschlichkeit verlangt werden,
"tragen bei zum Fortschritt der gesamten Menschheitsfamilie. Die Christen wissen wohl, wie viel ihre Vereinigung mit dem Sühnopfer des göttlichen Erlösers beiträgt zur Erbauung des Leibes Christi, damit er nämlich seine Fülle erlangt in der Vereinigung des Volkes Gottes" (PP 79).
So bringt Populorum Progressio an dieser Stelle Aussagen über das Innerste der Kirche in einen Zusammenhang mit solidarischem Handeln für die Armen: Die Opfer, welche für die Armen gegeben werden, tragen bei zur "Erbauung des Leibes Christi": Paul VI. sieht eine dringliche Notwendigkeit darin,
"im ganzen Volk Gottes die Einsicht zu wecken, welche Aufgaben die Gegenwart von ihm fordert: die Entwicklung der armen Völker vorantreiben, die soziale Gerechtigkeit zwischen den Nationen fördern, den weniger entwickelten Nationen helfen, dass sie selbst für sich selbst an ihrem Fortschritt arbeiten können" (PP 5).
Diese nur ganz knappen ekklesiologischen Andeutungen von Populorum Progressio stehen in einem weiten Kontext der Weltbeschreibung und Welt- Deutung. Dabei ist es ein Anliegen, die Z e i c h e n d e r Z e i t zu erforschen und sie i m L i c h t e d e s E v a n g e 1 i u m s zu d e u t e n (PP 31). Diese Wendung taucht seither regelmäßig in den Dokumenten der lateinamerikanischen Kirche und bei Befreiungstheologen wieder auf.
Das in Populorum Progressio entwickelte Weltbild spricht noch im Grundtenor einer "ungleichen Entwicklung" (siehe 1.1.2.).
"die reichen Völker
erfreuen sich eines raschen Wachstums, bei den armen geht es nur langsam
voran" (PP 8).
Deshalb müsse bei den ehemaligen Kolonialvölkern [...] "zu der erlangten
bürgerlichen Freiheit gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung
hinzukommen), um (... ) einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft der Völker
zu erlangen." (PP 6).
Man könnte nun aus diesen und ähnlich lautenden Äußerungen (PP 5; 13; 15; 55; 64; 76; 78) entnehmen, dass die Enzyklika durchweg in einem entwicklungsoptimistischen Stil geschrieben sei - wie dies bisweilen bemängelt wird. Auf der anderen Seite wird aber festgestellt:
'Vor dem Umfang und der Dringlichkeit dieser Aufgabe (der wirtschaftlichen Entwicklung) sind die bisherigen Mittel unzureichend'. (PP 7)
Im nächsten Halbsatz werden die Entwicklungskonzepte als "nicht
schlechthin falsch" bewertet (PP 7). Vor den Folgen eines
unproblematischen Entwicklungsdenkens wird sogar vielfach in der Enzyklika
gewarnt (PP 11; 19; 29) und jeder Wirtschaftsliberalismus wird gebrandmarkt (PP
26).
Allerdings tauchen die Probleme, welche von der Dependenztheorie gestellt werden, hier in Populorum Progressio nicht auf.
Auf der anderen Seite wird eine Großzahl von Problemen genannt, welche in Medellin und auch bei Befreiungstheologen eine Rolle spielten:
Kulturelle Überfremdung (PP 21-23), Enteignung von Grundbesitz (PP 24), Entfremdung durch Technokratie (PP 28), Bevölkerungswachstum (PP 37), Analphabetismus (PP 35), Berufsorganisationen (PP 40), sowie die Probleme der Preis- und Zinspolitik (PP 57 ff). Als Hilfe gegen diese Nöte werden neben dem persönlichen Einsatz, den jeder gemäß seiner persönlichen Fähigkeiten erbringen soll, die Bildung von Hilfsorganisationen (PP 64; 54) und abgestimmte Fonds (PP 50; 51) empfohlen. An dieser Stelle wird dann später von Seiten lateinamerikanischer Theologen der Einspruch erhoben: Diese Mittel und Hilfsprogramme stellten nur 'technokratische Korrekturen' dar, welche das grundlegende Problem der Abhängigkeit nicht lösen könnten. Medellin wird an dieser Stelle dann von "sündhaften Strukturen"77 sprechen.
Wir werden in den folgenden Kapiteln nun zu fragen suchen, wie die katholische Kirche Lateinamerikas (durch das Lehramt und durch ihre Theologie) sich diesen vielfältigen Fragen und Problemen gestellt hat, von denen nur einige hier angeklungen sind. (Die politische Problematik wurde dabei ausgeklammert). Wir wollen fragen, welche Antworten und Orientierungen die Katholische Kirche gegeben hat und woran sie sich selbst in ihrer Suche nach Antworten orientiert hat.
Die Beschlüsse der Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellin sind mit dem Titel "Die Kirche in der gegenwärtigen Umwandlung Lateinamerikas im Lichte des Konzils" überschrieben. In einleitenden Worten zu den Dokumenten Von Medellin, "Botschaft an die Völker Lateinamerikas" genannt, sagen die lateinamerikanischen Bischöfe deutlich, in welchem Verhältnis sie ihre Aussagen zu den Aussagen des II. Vatikanums verstanden wissen wollen:
'In unseren Überlegungen machten wir uns auf den Weg zur Suche nach einer neuen und intensiveren P r ä s e n z d e r K i r c h e i n d e r g e g e n w ä r t i g e n U m w a n d l u n g L a t e in a m e r i k a s i m L i c h t e d e s II . V a t i k a n i s c h e n K o n z i l s , in Übereinstimmung mit dem für diese Konferenz genannten Thema "78 (Sperrung im Original).
Schon rein äußerlich wird die Abhängigkeit der Aussagen von Medellin zum Vatikanischen Konzil dadurch sichtbar, dass das Konzil sehr oft zitiert wird, besonders die Konstitution "Gaudium et Spes", dann aber auch "Lumen Gentium" und Aussagen von Papst Paul VI.79. Außerdem spielen die Vorbereitungsdokumente für Medellin eine Rolle80.
Im Jahre 1964 hatte das II.Vatikanische Konzil seine Sicht der Kirche in der "Dogmatischen Konstitution über die Kirche - Lumen Gentium" umrissen81. In dieser Konstitution wird die Kirche von ihrem Ursprung her bedacht: von den Geheimnissen der hl Trinität her. Die Aussagen von Lumen Gentium kreisen immer neu um die Frage, die Kirche vom Gottesgeheimnis her zu verstehen. Ein Jahr später beschrieben die Konzilsväter in der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" die andere Relation, in der die Kirche steht: ihren Weltbezug in der "Welt von heute"82. Hier wird auch betont, wie stark beide Konstitutionen zusammengehören.
Die II. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopates in Medellin/ Kolumbien vom 24.8. - 6.9.1963 steht in dem Einflussbereich der vielfältigen politischen und geistigen Strömungen, welche im ersten Kapitel vorgestellt wurden. In Medellin sollten einerseits die Entschlüsse des II. Vatikanums auf die lateinamerikanischen Verhältnisse angewendet werden (Introducion 8, S.15)83. Daneben aber sollten auch die Aussagen von Populorum Progressio berücksichtigt werden. Die politische Unruhe drängte auf Medellin ein: In Peru hatte die Militärregierung des General Alvarados eine sozialistische Revolution angekündigt, in Cordoba / Argentinien forderte eine Erhebung zur selben Zeit die Rückkehr unter ein populistisches Modell im Sinne Perons. Viele Priester und Ordensleute stürzten sich in ein soziales Engagement; 1966 war Camillo Torres als Guerrillero in Kolumbien umgekommen. Noch heute haben fünf verschiedene marxistische Guerrilla- Organisationen aus den Sechziger Jahren in Kolumbien ein Drittel des Landes unter Kontrolle84.
In dieser Zeit des vielfältigen politischen Umbruchs in einer aktuellen und bewussten Weise als Christen in der Welt präsent zu sein85, stellte sich den versammelten Bischöfen und Theologen86 als Aufgabe.
Die Konferenz ging von politisch- sozialen Analysen aus, welche gemäß Populorum Progressio (PP 13) und Gaudium et Spes (GS 4) als 'Zeichen der Zeit" "im Licht des Evangeliums gedeutet" werden sollten (Mensaje III,S. 8):
Wir "haben uns bemüht, den Plan Gottes in den 'Zeichen der Zeit' zu erkennen. Wir deuten die Bestrebungen und Klagen Lateinamerikas als Zeichen, die die Ausrichtung des Gottesplanes offenbaren, der in der Erlöserliebe Christi wirkt".
Die Väter wollten im Sinn von Populorum Progressio (PF 81) "den ganzen Wandlungsprozess mit den Werten des Evangeliums durchdringen", "Probleme spüren, Anforderungen wahrnehmen, Wege entdecken und an Lösungen mitarbeiten" (Mensaje III, S.8). Die historische Etappe Lateinamerikas sehen die Versammelten "eng mit der Heilsgeschichte verknüpft" (Mensaje III,S.8). Der Beitrag der Christen wird darin gesehen, "die Kraft des Evangeliums, das Kraft Gottes ist, offenbar zu machen", wobei die Kirche als Urgestein eine "Gesamtsicht des Menschen und der Menschheit" einzubringen habe (Mensaje II, S. 8).
Das Dokument der Konferenz enthält drei Teile, denen eine "Botschaft an die Völker Lateinamerikas' (= Mensaje) und eine "Einleitung zu den Entschließungen" (= Introduccion) vorangestellt sind:
Im ersten Teil werden allgemeine Fragen der Kirche in der lateinamerikanischen Wirklichkeit unter dem Stichwort 'Menschliche Entwicklung" behandelt: Die Fragen um Gerechtigkeit (l. Kapitel, "Justicia"), Frieden (2. Kapitel, "Paz"), Familie und Bevölkerungswachstum (3. Kap., "Familia"), Erziehung (4. Kap., "Educacion") und Jugend (5. Kap., "Juventud"). Hier wird die Stellung der Kirche zu den konkreten Problemen der lateinamerikanischen Welt bedacht.
Im zweiten Teil des Dokumentes von Medellin werden Probleme mehr pastoraler, liturgischer und katechetischer Natur behandelt wie : Volkspastoral (6. Kap., "Pastoral"), Pastoral der Führungsschichten (7. Kap., "Pastoral II"), Katechese (8.Kap., "Catequesis") und Liturgie (9.Kap., "Liturgia").
Der dritte Teil beschäftigt sich mit "der sichtbaren Kirche und ihren Strukturen", mit Laienbewegungen (10.Kap.) mit den Priestern (11.Kap., "Sacerdotes"), Ordensleuten (12.Kap., "Religiosos"), deren Ausbildung (13.Kap., 'Performacion'), mit der Armut der Kirche (14.Kap., "Pobreza"), einem Gesamtpastoralkonzept (15.Kap., "Pastoral de Conjunto") und den sozialen Kommunikationsmitteln (16.Kap., "Comunicacion").
D i e meiste Wirkung zeigte Medellin in seiner "prophetischen Anklage", dem die beiden ersten Kapitel gewidmet sind: dem Kapitel über Gerechtigkeit (Justicia) und dem über Frieden (Paz). Hier wird die Gleichberechtigung von Mann und Frau gefordert, bessere Lebensbedingungen für Campesinos, Absatzsicherung, Möglichkeiten der politischen Selbstorganisation und eine Agrarreform, Genossenschaften, 'Zugang zu politischen Entscheidungen. (Justicia 1-9; 14-16; S.17; 23 ff).In diesem Zusammenhang fällt auch ein Begriff, der später oft pauschal als "strukturelle Sünde" weitergegeben wurde, der aber differenzierter definiert war:
"Zu all dem muss noch ein Mangel an Solidarität hinzugefügt werden, was im individuellen und sozialen Bereich zu wirklichen Sünden führt, deren Kristallisation in den Ungerechten Strukturen offensichtlich wird, die die Situation Lateinamerikas kennzeichnen" (Justicia 2, S.17).
An anderer Stelle wird präzisiert: Es werden politische Systeme angeklagt, welche dem "Gemeinwohl entgegenwirken oder privilegierte Gruppen begünstigen"(Justicia 16,S.24). Von Gewalt" spricht Medellin dann, 'wenn durch Unzugänglichkeit der Strukturen der industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmen, der nationalen und internationalen Wirtschaft, des kulturellen und politischen Lebens "ganze Völker das Notwendigste entbehren und in einer Abhängigkeit leben, die sie an der Initiative und Verantwortung, sowie am kulturellen Aufstieg hindert".(Paz IG,S.35)
In der Gerechtigkeit wird dann die Wurzel des Friedens gesehen:
'Der Friede ist vor allem ein Werk der Gerechtigkeit" und einer "gerechten Ordnung, in der sich die Menschen als Menschen verwirklichen können", in der "ihre Würde geachtet wird",in der ihre 'persönliche Freiheit garantiert wird' und in der die "Menschen Träger ihrer eigenen Geschichte sein sollen"(Paz 14a, S.32).
Das Thema der Concientizacao taucht mehrmals auf:
..Die Gerechtigkeit und folglich den Friede erobert man durch eine dynamische Aktion der Bewusstseinsbildung und Organisation der Volksschichten, durch eine Aktion, die fähig ist, auf die öffentlichen Mächte, die ohne Unterstützung des Volkes in ihren sozialen Programmen vielfach machtlos sind, Druck auszuüben" (Paz 18, S.35; Educacion 3, S.49; 9,S.52 etc.).
Basisgemeinschaften (noch nicht unter dem Begriff "Basisgemeinden") werden erwähnt:
'Es ist notwendig, dass sich die kleinen soziologischen Basisgemeinschaften weiterentwickeln, um Gleichgewicht gegenüber den Minderheitsgruppen, die die Macht haben, herzustellen'. (Justicia 20,S.25).
In der Beschreibung der wirtschaftlichen Realitäten Lateinamerikas wird das Modell Ungleicher Entwicklung (zB in Justicia 13,S.23; Paz l,S.27; etc.) verwendet. Aber auch eine gemäßigte Variante des Dependenzmodells wird angewendet:
'Wir beziehen uns hier besonders auf die Konsequenzen, die für unsere Länder eine Abhängigkeit von einem wirtschaftlichen Machtzentrum in sich bergen, um das sie sich gruppieren. Daraus ergibt sich, dar:, unsere Länder weder Eigentümer ihrer Güter, noch Herren ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen sind'. (Paz 8, S. 29).
In all diesen Fragen sieht die Kirche ihre Aufgabe darin, "zu erwecken","zu drängen",'anzuklagen, "zu bilden"," zu ermutigen", "zu unterstützen", "zu verlangen" und "anzuregen". Konkretisiert werden dann die Aussagen für die Zielgruppen Familie und Jugend.
Der dritte und letzte Abschnitt behandelt Fragen der Organisation der Kirche (Laienapostolat, Insitutionen, etc.). Zum Schluß möchten die anwesenden Bischöfe und Theologen, dass die Kirche als Ganzes zeichenhaft eine solidarische Armut mit den Armen lebe (Pobreza S.133ff):
"Wir möchten, dass unsere lateinamerikanische Kirche frei wird von irdischen Fesseln, von geheimen Abmachungen und zweideutigem Prestige' ... 'So wird die Kirche, die das Werk Christi fortsetzt, der um unseretwillen arm wurde, da er reich war, damit wir durch seine Armut reich würden, vor der Welt ein klares und unmissverständliches Zeichen unseres Herrn sein' (Pobreza 18, S.139).
Interessant ist zu verzeichnen, dass offensichtlich in der Wirkungsgeschichte von Medellin das Stichwort ganzheitlicher Befreiung als d i e Botschaft von Medellin verstanden wurde:
"Der Begriff 'Befreiung' ist seit Medellin bzw. im 'Zusammenhang mit Medellin geradezu der Begriff geworden, der den lateinamerikanischen Katholizismus in seinen besten nachkonziliaren Strömungen kennzeichnet. Medellin hat mehr als Anruf denn als Programm wirkend eine vollkommen unerwartete Wende innerhalb des Katholizismus des ganzen Kontinents ausgelöst"87 .
Das Anliegen von Medellin ist pastoraler Natur: "Unsere Sendung ist es, zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen beizutragen"88. Die ekklesiologischen Aussagen von Medellin sind daher nicht systematisch - wie in Lumen Gentium, sondern verstreut anzutreffen.
Zur Bewältigung ihrer pastoralen Aufgaben rechnet die Kirche mit "wesentlichen christlichen Elementen", mit "einem angeborenen Sinn von der Würde aller", einer "Neigung zu Brüderlichkeit und Gastfreundschaft", einer 'Gewissheit um einen gemeinsamen Vater und die übernatürliche Bestimmung aller' (Mensaje IV,S.9 ). Man geht hier also nicht von einer theologischen Aussage aus, sondern von einer gewissen, allgemein verbreiteten religiösen Grundsicht - und Einsicht. Auch kann man darin eine Paraphrasierung der Konzilsaussage sehen:
'Der ewige Vater hat die ganze Welt (... ) erschaffen. Er hat auch beschlossen, die Menschen zur Teilhabe an dem göttlichen Leben zu erheben.'(LG 2).
Die Aussage in Medellin ist aber nicht deutlich (etwa durch Zitation) auf Lumen Gentium bezogen, sie wird auch nicht weiter entfaltet. Es wird nur auf eine "allgemeine Grundhaltung des lateinamerikanischen Menschen" verwiesen, welcher an den väterlichen Gott und Schöpfer glaube. Die Aussage über den Schöpfergott steht dann in einem engen Zusammenhang mit einem sozialen Impetus, der durch ein Zitat von GS 69 unterstrichen wird: Weil derselbe Gott es ist, der jeden Menschen. ..nach seinem Ebenbild und Gleichnis schafft, hat (er) die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen aller Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen"(Justicia 3, S.5).
Solche Aussagen über den Schöpfergott und Vater aller Menschen werden in Medellin an mehreren Stellen gegeben. Immer aber werden dabei theologische Aussagen im Zusammenhang mit sozialkritischen oder pastoralen Aussagen gemacht, zu denen sie oft nur einen Nebensatz abgeben. Lumen Gentium hatte hier systematischer die Schöpfung, das Heilswerk in Christus und die Bedeutung der Kirche miteinander verbunden (LG 3 8) Der konkrete Weltbezug war in Lumen Gentium abgetrennt worden, um dann in Gaudium et Spes nachgereicht zu werden. Hier in Medellin ist beides beisammen; es werden aber die sich aufdrängenden sozialen Probleme weniger theologisch durchdrungen.
Christus wird in Medellin in der Perspektive der Gerechtigkeit, der Befreiung und der Liebe gesehen:
"Es ist d e r s e 1 b e G o t t , der in der Fülle der Zeit seinen Sohn sandte, d e r M e n s c h w u r d e , um alle Menschen aus der Knechtschaft zu befreien, in der sie die Sünde, die Unwissenheit, der Hunger, das Elend und die Unterdrückung, mit einem Wort, die Ungerechtigkeit und der Hass gefangen halten, die ihren Ursprung im menschlichen Egoismus haben" (Justicia 1,3a).
Nirgendwo sonst im Dokument geht Medellin so deutlich auf Schöpfung und Menschwerdung ein wie in dieser Aussage. Auffallend daran ist, dass auch hier der Kontext ein ethischer ist. Es geht um "Gerechtigkeit" und "Befreiung": Wenn Gott der Schöpfer aller Menschen und des Kosmos ist, dann muss das Gut der Schöpfung auch allen Menschen zugute kommen. Und: Wenn Gott Mensch wurde, um a 1 1 e Menschen aus a l l e r Knechtschaft zu befreien (Justicia 3a), so muss sich der Mensch zu Gottes Freiheit bekehren:
"Dann brauchen wir Menschen alle für unsere wirkliche Befreiung eine "grundlegende Bekehrung mit dem Ziel, dass das 'Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens' zu uns kommt" (Justicia 3b).
Ein Mangel ist, dass in diesen Aussagen über Bekehrung und Hinwendung zum Reich Gottes nichts über den historischen Jesus, sein irdisches Leben und seinen Weg zum Kreuz gesagt wird. Der Grund für die Befreiung und die Erlösung des Menschen liegt, - nach Medellin - im S c h ö p f e r g o t t, der seinen Sohn sandte", "der Mensch wurde", der "befreite" (Justicia 3a). Eine Reflexion auf den Erlösungsgrund, der im Kreuz gegeben ist, fällt hier in Medellin aus. Lumen Gentium hatte, wenn auch knapp, dies folgendermaßen formuliert:
'Um den Willen des Vaters zu erfüllen, hat Christus ... durch seinen Gehorsam die Erlösung g e w i r k t '. (LG 3)
Medellin hat das Leben Jesu dynamisch gezeichnet als "von ungeduldigem Sehnen des Menschen nach seiner totalen Erlösung" und in einer "in Liebe verwirklichten Aktivität stehend". (Introduccion 5). Solch ein Leben sei von Gott durch die Auferweckung Christi bestätigt worden:
"Gott hat Christus auferweckt und folglich alle, die an Ihn glauben. Christus, aktiv in unserer Geschichte gegenwärtig, nimmt seine (dh. Gottes) eschatologische Tat nicht nur im ungeduldigen Sehnen des Menschen nach seiner totalen Erlösung vorweg, sondern auch als prophetische Zeichen in jenen Errungenschaften, die der Mensch durch eine in Liebe verwirklichte Aktivität erlangt' (Introduccion 5).
Eine Nachfolge Christi wird im Sinne einer, Anklage von Ungerechtigkeit und Egoismus empfohlen:
"Den Frieden findet man nicht, man errichtet ihn. Der Christ ist ein Baumeister des Friedens. Diese Aufgabe hat in unserem Kontinent auf dem Hintergrund der vorher beschriebenen Situation (der politischen Unterdrückung nämlich) einen speziellen Charakter. Deshalb muss das Volk Gottes in Lateinamerika, dem Beispiel Christi folgend, mit Kühnheit und Mut dem Egoismus und der persönlichen und kollektiven Ungerechtigkeit die Stirn bieten'. (Paz 14c).
Das Reich Gottes wurde in Medellin in den Kategorien des Erahnens und Erhoffens einer ganzheitlichen Erlösung beschrieben: Gottes "rettender Schritt" wird in einer "wahren Entwicklung (...) zu menschlicheren Lebensbedingungen" gespürt (Introduccion 6); und Gottes rettende Gegenwart wird in Parallelität zum Exodus gesehen (Introduccion 6). Unklar bleibt, worin das Reich Gottes sich noch von einem 'Reich der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens" (Justicia 3) unterscheidet. Gewiss: "Liebe soll (... ) die Gerechtigkeit in der Welt verwirklichen" (Justicia 4); Friede "ist vor allem Werk der Gerechtigkeit", und "erfordert eine gerechte Ordnung-.. in der die Menschen nicht Objekte, sondern Träger ihrer eigenen Geschichte sein sollen (Paz 14a). Aber die S p a n n u n g zwischen Gerechtigkeit und Friede auf Erden einerseits und dem Reich Gottes andererseits wird nicht deutlicher beschrieben.
Lumen Gentium hatte das Reich Gottes stärker mit dem Wirken des historischen Jesus verbunden:
Das Reich Gottes kommt an und wird offenbar im Wirken Jesu von Nazareth (LG 3). Es wird aber nach dem Tod Jesu und der Ausgießung des Heiligen Geistes über die Jünger durch die Kirche weiter angekündigt und in allen Völkern begründet (LG 5). Die Kirche stellt "Keim und Anfang dieses Reiches auf Erden dar" und streckt sich "verlangend aus nach dem vollendeten Reich" (LG 5). Auch die Kirche wird in Lumen Gentium stärker am historischen Jesus festgemacht: Alle Glieder der Kirche müssen Christus nachfolgen, "bis, Christus Gestalt gewinnt in ihnen" (LG 7). Deshalb sieht das Konzil die Kirche in ihrer komplexen Wirklichkeit in einer gewissen "Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich" (LG 8).
Dann aber wird sie zum "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (LG 1). Die Heilsgeschichte wird in trinitarischer Weise beschrieben: Die Menschheit mitsamt der ganzen Welt vom Vater erschaffen, soll "zur Teilhabe am göttlichen Leben erhoben werden" (LG 2). Diese Teilhabe aber wird durch das Kreuzesopfer Christi erwirkt; durch seinen Gehorsam wird die Erlösung gewirkt (LG 'D). Alle, welche an Christus glauben, werden in der Kirche zusammengerufen (LG 2), in welcher nun der Heilige Geist lebt und wirkt (LG 4). Die Heiligung der Kirche, ihre Rückbindung zum Vater- und ihre ständige neue Verlebendigung geschieht im Heiligen Geist (LG 4).
Von Lumen Gentium ausgehend wird in Medellin die Sicht der Gemeinschaftlichkeit der Kirche übernommen:
'Nach dem göttlichen Willen sollen die Menschen sich nicht als einzelne heiligen und retten, sondern als Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist in erster Linie durch die Verkündigung des Wortes des lebendigen Gottes zusammengerufen und geeint. Dennoch 'wird keine christliche Gemeinde aufgebaut, wenn sie nicht Wurzel und Angelpunkt in der Feier der Eucharistie hat', 'aus der die Kirche immerfort lebt und wächst"' (Pastoral I 9, 3.71).
Insgesamt wird die Kirche in Medellin mehr vom G e i s t, vom W o r t und von der H o f f n u n g her verstanden: 'Die Stunde des Wortes hat noch nicht aufgehört, aber sie hat sich mit dramatischer Dringlichkeit zur Stunde des Handelns gewandelt" (Introduccion III, S.13).
Vehement wendet sich Medellin gegen einen Dualismus von Profangeschichte und Heilsgeschichte:
"ohne in Verwechslungen zu kommen oder vereinfachende Gleichsetzungen zu verfallen, muss man immer die tiefe Einheit bekunden, die zwischen dem in Christus verwirklichten Heilsplan Gottes und den Erwartungen der Menschen besteht, zwischen der Heilsgeschichte und der Menschheitsgeschichte, zwischen der Kirche, dem Volk Gottes und den zeitlichen Gemeinschaften, zwischen der Erlösungstat Gottes und der Erfahrung der Menschen, zwischen den übernatürlichen Gaben und den menschlichen Werten.(Catequesis I,4 S.82 siehe auch 17b S.85).
Andererseits wird "jede Befreiung schon (als) eine Vorwegnahme der vollkommenen Erlösung durch Christus" bezeichnet (Educacion 9, '-2.52).
Um zu einem vorläufigen Abschluss zu kommen:
Es wurde vielleicht deutlich, dass Medellin in einem großen geschichtlichen Schwung formuliert ist, dass es ein Panorama vor Augen hat, wo Handeln - und nicht eine Theorie - gefordert ist. Profangeschichte und Heilsgeschichte werden kühn zusammen gedacht (Mensaje II, III, Introduccion 1, 2, 4, Justicia 3, 5, Paz 14, Pastoral I 8, 9) Die Zeichen der Zeit werden deutlich wahrgenommen: Hunger, Marginalität, Armut usw. Es wurde deutlich, dass die Kirche sich angesprochen fühlt, diese Aufgaben mutig anzupacken.
Lumen Gentium hatte dagegen die Geschichte stärker von der eschatologischen Erfüllung abgegrenzt (LG 48 bis 51): Die Kirche "wird erst in der himmlischen Herrlichkeit vollendet werden, wenn die Zeit der allgemeinen Wiederherstellung kommt. Dann wird mit dem Menschengeschlecht auch die ganze Welt, die mit dem Menschen innigst verbunden ist und durch ihn ihrem Ziele entgegengeht, vollkommen in Christus erneuert werden" (LG 48,1). "Das Ende der Zeiten ist also bereits zu uns gekommen (vgl. 1 Kor 10,11), und die Erneuerung der Welt ist unwiderruflich schon begründet und wird in dieser Weltzeit in gewisser Weise wirklich vorausgenommen" (LG 48,3). Die pilgernde Kirche trägt aber noch die Gestalt der Welt, welche seufzt und in Wehen liegt und die Offenbarung der Kinder Gottes erwartet (LG 48,3). Bis die eigentliche, endgültige Gestalt offenbar wird, muss alles noch einmal durch ein Gericht hindurch, muss Rechenschaft ablegen und verwandelt werden, bis alles dann in der "Gleichgestalt" mit dem Leibe der Herrlichkeit Christi verherrlicht werden kann (LG 48,4).
Insgesamt müsste man bei Medellin beanstanden, dass es oft nur eine oberflächliche Begründung des spezifisch christlichen und kirchlichen Engagements bringt. Bisweilen wirkte sich dies dann so aus, dass Kirche, Geistsendung, christliches Handeln und Dienen in der Welt in der Luft hängen bleibt. Bei der Fülle der sozialen Probleme, welche auf die Kirche in Lateinamerika einstürmen, ist dies wohl kein Wunder. Es könnte hierin aber vielleicht auch ein Grund dafür liegen, warum die Dokumente von Medellin nach Konferenzschluss so vielfältige und divergierende Leseweisen gefunden haben. Dies soll im folgenden nun erörtert werden.
La
Iglesia chilena, microcosmos latinoamericano, Cronica; In: Tierra Nueva 1
(1972) 80-91
S.Tamas, The political Economy of Underdevelopment, Budapest 1972
Interessant ist zu bemerken, dass viele sog. "Befreiungstheologen' in
diesem studentischen Milieu der Sechziger Jahre gelebt und gearbeitet haben.
Siehe hierzu die Biografischen Skizzen im Anhang dieser Arbeit.
Diese Sicht nimmt auch
weitgehend der CEHILA ein.
siehe auch: Rodolfo Valenzuela Monges, De la dependencia a la teologia de la
liberacion, notas bibliograficas, Cidoc Doc. I/I 73/386, CIDOC Cuadernos,
Cuernavaca, Mexico 1973
Die Neuentdeckung der Kirche, Basisgemeinden in Lateinamerika, Mainz 1980
In:Testimonium, Montevideo 3(1968) 81-104
In: FEIL/WETH, 218 -248.
Diskussion zur 'Theologie der Revolution', Ernst Feil/ Rudolf Weth (Hgg.),
München 1969 FEIL/WETH), 292
Federacion Luterana Mundial Buenos Aires 1969, 155
Joaquin Lepeley, La teologia de la revolucion (I) In: Tierra Nueva l(1972)
63-72
ders. Der gekreuzigte Gott, München 1972
ders. Reden vor der Paulusgesellschaft vom 27.- 30.April 1967 in Mailand, In:
Perspektiven der Theologie, Gesammelte Aufsätze München 1969
In- CIDOC International Nr 21
1967,In: Texte zur katholischen Soziallehre, herausgegeben vom Bundesverband
der katholischen Arbeitnehmerbewegung
(KAB) Kevelaer (5)1982, 435-470 PP)
Zitat: PP3 , siehe hierzu auch PP9
Ansprache Papst Paul VI. am Tag der Entwicklung, Bogota , 23.8.1968 In: AAS 1968,
625
Signos de Renovacion, Recopilacion de dacumentos postconciliares de la Iglesia
en America latina 1969, Lima 1970; deutsch: Signos de Renovacion, Adveniat
Dokumente - Projekte 10, Essen 1972
Kleines Konzilskompendium Freiburg (10)1975, 123-197
In: Karl Rahner/ Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium Freiburg
(10)1975, 449-552
"1965 begann eine kleine Gruppe von Theologen sich in periodischen
Abständen in verschiedenen Städten des Kontinents zu treffen. (...) Unter ihnen
waren Gustavo Gutierrez, Luis Segundo, Segundo Galilea, Lucio Gera und zwei
oder drei andere. Segundo Galilea (wurde) 1965 mit dem Aufbau eines nicht
ortsgebundenen Pastoralinstituts beauftragt. Er spielte auch eine wichtige
Rolle beim Aufbau des Pastoralinstituts von Quito (IPLA), das dort 1968 bis
1973 in Betrieb war. G.Gutierrez und L.Gera hatten einen prägenden Einfluss in
Medellin. In gewisser Weise hatte die Gruppe Medellin seine eigensten
theologischen Konzepte oder wenigstens den größten Teil davon vermittelt. Man
kann sagen, dass die Theologie der Befreiung in erster Linie in dieser Gruppe,
die übrigens nie institutionalisiert oder als solche abgegrenzt wurde,
entstand'.